Annika Büsing: Nordstadt

  Bloß kein Mitleid!

Nene und Boris, beide Mitte 20, sind keine Sonnenkinder. Sie stammen aus dem Norden der Stadt, wo es nicht so schön ist und die Lebensverhältnisse oft prekär sind. Auch für Nenes Vater war der Umzug von der bürgerlichen Südstadt, wo er mit seiner ersten Frau und der gemeinsamen Tochter Alma lebte, in die Nordstadt ein Abstieg. Dem Alkohol verfallen hat er seine zweite Frau und vor allem Nene körperlich und psychisch misshandelt, um den eigenen Frust abzubauen. Nenes Mutter ist an Krebs gestorben, als sie acht war, von da an wechselten sich Gewaltepisoden zuhause und Inobhutnahmen durch das Jugendamt ab, eine Vergewaltigung mit 17 kam hinzu. Nenes Halt und zweites Zuhause war das Schwimmbad, wo sich Trainer um sie bemühten. Mit 18 dann die erste eigene Wohnung, die Ausbildung zur Bademeisterin und eine Anstellung in ihrem Wunschberuf – mit Zielstrebigkeit und Kampf hat sie sich eine Position in der Welt ertrotzt. Geblieben ist eine ohnmächtige Wut auf die Eltern.

© B. Busch

Von einer wilden Wut ist auch Boris durchdrungen. Er ist als Sohn einer verspäteten Hippie-Mutter das Opfer einer fehlenden Impfung gegen Kinderlähmung und leidet unter seinen kraftlosen Beinen, unter Schmerzen, seiner Arbeitslosigkeit und allgemeinem Spott. Der Mutter hat er vergeben, aber Hoffnung für die Zukunft hegt er nicht. Im Gegensatz zur geradlinigen, direkten Nene lügt er das Blaue vom Himmel herunter: aus Scham? Angeberei? Als Grenzüberschreitung?

Einsamkeit, alte Wunden und eine nie versiegende Trauer schleppen beide mit sich herum. Trotzdem vertragen sie eines nicht: Mitleid. Doch während Nene nur ihre Eltern hasst, verabscheut Boris die Menschen im Allgemeinen und vertraut niemandem.

Eine Trotzdem-Annäherung
Weder Nene noch Boris sind auf der Suche nach der großen Liebe, als sie sich zufällig im Schwimmbad begegnen. Sie arbeitet, er braucht ein Schwimmbrett, das sie ihm gegen die Regeln ausleiht. Sein Hinken und seine großen Puma-Augen bemerkt Nene zuerst. Doch eine Liebe auf den ersten Blick ist es trotzdem nicht. Beide können die Schutzwälle, die sie mühsam aufgebaut habe, nur schwer aufgeben. Vor allem Boris ist eklig an seinen schlechten Tagen, von denen er viele hat.

Kein Wohlfühlbuch
Der Debütroman Nordstadt der Lehrerin Annika Büsing wurde 2022 für den Bayerischen Buchpreis nominiert und mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. In drei Kapiteln, die sich wie ein Kreis schließen, denn der Beginn des ersten ist zugleich das Ende des dritten, erzählt Nene von einer ungewöhnlichen Liebe zwischen zwei Versehrten, denen das Leben übel mitgespielt hat. Wie hypnotisiert bin ich Nenes unsortierten Gedankengängen gefolgt, wechselweise angezogen und abgestoßen von der ruppigen, unverblümt-ehrlichen, rotzigen, mal fast poetischen, mal vulgären Erzählweise mit den kurzen, der gesprochenen Sprache entstammenden Sätzen. Die vorangestellte Warnung wegen der Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ist in diesem Falle sicher berechtigt und nur aufgrund der lakonischen, oft ausgesprochen witzigen Stimme Nenes erträglich:

In der Historie von Pärchen, die miteinander schlafen wollen, sind wir das mit den meisten Fehlversuchen. (S. 24)

Trotz seiner nur 128 Seiten ist Nordstadt kein schnelles Buch und man muss die Drastik und Sprunghaftigkeit auszuhalten können. Überzeugt haben mich die außergewöhnliche Erzählstimme, die respektvolle Zuneigung der Autorin zu ihren beiden Antihelden, das Fehlen jeglichen Kitsches und der Mut zu Leerstellen.

Annika Büsing: Nordstadt. Steidl 2022
steidl.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert